»Du bist ein Gott, der mich sieht«
Zur Jahreslosung 2023 wurde dieser Satz aus Genesis 1,13 ausgewählt. Er ist aus dem Zusammenhang gerissen – das haben solche Jahresmottoverse halt an sich – und darüber hinaus ist die Übersetzung aus der Lutherbibel etwas unpräzis.
Der Satz erinnert mich an düstere Sonntagsschulstunden, in denen uns eingebläut wurde, dass Gott alles sieht und weiss, auch das, was wir im Verborgenen schlecht getan oder gedacht hätten. Ich brauchte recht lange, um mich von dieser Vorstellung von Gott als perfektem Stasi-Offizier zu lösen.
Aber der Satz hat was, wenn man ihn nicht aus dem Zusammenhang reisst. Hagar ist eine Sklavin von Sara und schwanger von deren Mann Abraham. Sie ist in die Wüste geflüchtet und wird dort von Gott gefunden. Er macht ihr Mut, zurückzukehren und er verspricht ihr, dass es gut ausgehen wird. Da spricht Hagar Gott an und gibt ihm den Namen El-Roi – auf Deutsch: Gott, der [mich] sieht.
«Du bist Gott, der sieht.» Ein kleines Glaubensbekenntnis, das uns Gott ganz anders zeigt als den in der Sonntagsschule vermittelten Stasi-Gott. Gott sucht bei Hagar nicht deren Fehler, sondern er sieht sie in ihrem Elend, nimmt sie ernst, und hilft ihr, aus der Wüste herauszukommen zurück ins Leben.
«Du bist Gott, der sieht» – ein Versprechen auch für uns. Er lässt uns nicht in der Wüste verdursten. Er ist da, wenn wir nicht mehr ein und aus wissen. Der sehende Gott steht jenen bei, die in der Wüste sind, vielleicht krank sind, oder im Streit leben mit Familie oder Nachbarschaft. Gott sieht das Unglück jener, die ihre Heimat verlassen mussten und das Unglück jener, die betrogen werden oder verführt.
Gott sieht. Er ist nicht an unseren Fehlern interessiert, sondern an unserem Wohlergehen. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes, gutes Neues Jahr!